Der Schmusechor: Ein Chor, der den Mund aufmacht 

© Nina Keinrath

Der Schmusechor bezaubert nicht nur mit Interpretationen von Aretha Franklin und David Bowie. Der queer-feministische Gesangsverein nimmt sich auch politisch kein Blatt vor den Mund.

 Ein Probenbesuch von Chiara Joos

Mit kraftvollen Schritten stampft Verena Giesinger auf den Boden, reißt die Arme nach vorne und ruft aus: „Ihr müsst das richtig wild aussprechen!“. Ein Chor aus dicht aneinander gedrängten Alt, Bass-, Sopran- und Tenorstimmen antwortet ihrer Dirigentin Giesinger mit einem lauten, langgezogenen „Juuuust“. In einem kleinen Raum im Brut Wien, einer Produktions- und Spielstätte für performative Künste, probt Giesinger gemeinsam mit dem Ensemble, der Schmusechor, das Neujahrskonzert. Diese Proben markieren nur den Auftakt zu weiteren Auftritten und einer bevorstehenden Theaterproduktion. Die Wochen vor dem Wissenschaftsball lassen keine Lücken im Kalender zu. Giesinger und die Stimmen des Ensembles genießen nicht nur lokale Beliebtheit in Wien, sondern haben sich längst über die Grenzen Österreichs hinaus einen klingenden (sic!) Ruf erschaffen.

Trotzdem entsprechen sie nicht dem, was man typischerweise mit dem Wort „Chor“ assoziiert. Die Vorstellungen eines steifen Gesangsensembles lösen sich spätestens dann auf, wenn Giesinger und die 50 Chormitglieder den Raum betreten und zum Pop-Cover-Gesang von „I Want It That Way“ der Backstreet Boys über Alt-J und David Bowie bis hin zu Flight Of The Conchords, Comedian Harmonists und japanischen Anime-Melodien anstimmen. Menschen, darunter so einige männlich gelesene Personen, mit kräftig rotem Lippenstift und buntem Nagellack, die, ohne überhaupt erst so richtig mit ihrer Performance losgelegt zu haben, damit schon die gängigen Genderrollen-Klischees zu durchbrechen beginnen. Bunte Outfits, Lederaccessoires und aufwendiger Kopfschmuck gehören genauso dazu wie die gemeinsame Leidenschaft des Singens und machen das Erscheinungsbild und damit den Schmusechor gänzlich einzigartig in Österreich.

Mehr als nur Gesang: Der YouTube-Kanal des Schmusechors präsentiert selbstbewusst die Vereinigung von „Die Leidenschaft der sündhaftesten Telenovela trifft auf die Vocal Range einer Mariah Carey.“ Doch hinter der schillernden Fassade verbirgt sich ein ernsthaftes Engagement, das den queer-feministischen Chor zu einem politischen Schwergewicht macht.

Im Mai 2022 positionierte sich der Chor unter dem Hashtag #KeineBühnefürSexismus, was eine breite mediale Debatte auslöste. Die Kritik richtete sich gegen eine österreichische Musikgröße, die nicht nur Drogenverherrlichungen, sondern auch sexistischen und rassistischen Versen in ihren Texten Raum gab. Trotzdem zielt der Schmusechor nicht darauf ab „Cancel Culture“ zu betreiben, sondern als große Gruppe strukturelle Probleme in der Kunst- und Kulturszene anzuprangern: musikalische Diversität und faire Bezahlung.

Trotz der mittlerweile 50 Mitglieder:innen des Schmusechors ist die Entscheidungsfindung kollektiv. Spontane mehrtägige Klausuren werden einberufen, und es gibt keinen herkömmlichen Auswahlprozess. Im Sommer 2022 entschied sich der Chor für ein „Speeddating“ anstelle eines traditionellen Castings, um dem starken Zustrom von Bewerbungen gerecht zu werden.

Die politische Dimension des Chors zeigt sich auch in den drei Etappen des Auswahlprozesses, in denen nicht nur Gesang und Kostümproben durchlaufen werden, sondern auch die sozialen und politischen Werte des Chors geprüft werden. Der Schmusechor möchte mehr sein als nur ein sicherer Raum und setzt auf eine wachsende Verantwortung auf politischer, unternehmerischer und sozialer Ebene.

Verena Giesinger, die autodidaktische Dirigentin, leitet den Chor nicht nur kreativ, sondern sieht sich als Vorreiterin, die erstarrte Rollenbilder in der Musikbranche aufbrechen möchte. 2024 übernimmt sie als erste Frau ein Dirigat bei einem Neujahrskonzert.

Die Idee für den Schmusechor entstand vor zehn Jahren in einem Meidlinger WG-Schlafzimmer. Der Name vereint Schmusen und Singen, symbolisiert aber mehr als das. Der Chor soll ein Ort für diejenigen sein, die sich in üblichen Chören nicht wiederfinden. Durch die wachsende Beliebtheit und die unkonventionelle Herangehensweise beim Auswahlprozess ist der Schmusechor schnell gewachsen und hat sich zu einem musikalischen Gegenklang zu gesellschaftlichen Strömungen entwickelt.

Den vollständigen Text lesen Sie im Ballmagazin 2024, das am Ballabend erscheint.