Die Venus vom Wissenschaftsball

Maß nehmen an der Venus / Foto: Christina Rittmannsperger

Urbild der Weiblichkeit, Göttin, Sexsymbol: Seit Jahrtausenden reizt und schürt die Venus von Willendorf das Interesse der Wissenschaft und der Öffentlichkeit.

von Denise Meier

Heute ist es so weit – der Tag der ersten Anprobe. Sie bekommt ihr eigenes Kleid. Hätte ihr das vor knapp 30.000 Jahren jemand gesagt, sie hätte es wohl nicht geglaubt. Aber jetzt, im Jahr 2022, ist es endlich so weit. Ihre kleine, rundliche Figur wird eingehüllt in die schönsten Stoffe, die Designerin Michaela Mayer-Lee zu bieten hat. Mayer überlegt – Schwarz ist zu schlicht, Rot wird sie nicht genug vom Hintergrund abheben, Silber ist perfekt. Es schmeichelt ihrem terracottafarbenen Hautton so schön.

Direkt auf ihrem Körper wird meterweise Stoff drapiert, festgesteckt, zu einem Kleid geformt, das sie auf dem Wiener Ball der Wissenschaften zum ersten und wohl einzigen Mal ausführen darf, denn normalerweise ist ihr Platz woanders. Normalerweise steht sie nackt zur Schau, vor über 800.000 Menschen pro Jahr im Naturhistorischen Museum in Wien. Eingekleidet wird natürlich ein Replikat der Venus von Willendorf. Eine Kopie in Übergröße, denn die echte Venus misst nur etwa elf Zentimeter, kaum größer als eine Kaffeetasse. (…)

Sie wurde 1908 bei Ausgrabungen im niederösterreichischen Willendorf gefunden. Seither sind 114 Jahre vergangen, für die Venus nur ein winzig kleiner Bruchteil ihres Daseins. Der Künstler oder die Künstle-rin, aus deren Hand sie stammt, lebte vor etwa 29.500 Jahren in der Altsteinzeit, der Zeit der Jäger und Sammler. Er oder sie war nicht der Einzige mit der Idee, eine nackte rundliche Frau darzustellen. Insgesamt haben Forscher:innen etwa 80 bis 100 solcher Venusfi-guren aus der Altsteinzeit entdeckt. Die Fundorte liegen etwa in Portugal, Frankreich, Sibirien – oder eben in der Wachau. (…)

Von extrem schlanken Ägypterinnen über die Rubensfrauen im Barock bis hin zur Twiggy-Ära in den 1960er-Jahren – im Lauf der Menschheitsgeschichte unterliegen Frauen andauernden – von au-ßen vermittelten – Idealgewichtsschwankungen. Der Druck, sich diesen zu beugen, ist groß. Als erstrebenswert gilt scheinbar im-mer das, was schwierig zu erreichen ist. In Zeiten, in denen gro-ßen Teilen der Bevölkerung die Nahrung nicht gesichert ist, gelten rundliche Frauen als besonders attraktiv. Im Wohlstand werden dünne Frauen begehrenswerter gesehen. Als Gegenbewegung dazu hat sich in den 2010ern vor allem in den sozialen Netzwerken die Body-Positivity-Bewegung verstärkt. Ihre Vertreter:innen stellen sich dem Trend zu unerreichbaren Schönheitsidealen entgegen. Eine davon ist Nunu Kaller. Die Autorin und Aktivistin setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Menschen ihren Körper mit Akzeptanz behandeln. Und mit Dankbarkeit, „denn oft nörgelt man an sich umher, dabei ist der Körper erst derjenige, der dich dein Leben erleben lässt.“ (…)

Und nun steht sie da auf dem Podest, die zierlichen Ärmchen bedecken die nackte Brust, der Kopf ist geneigt, die Schultern sind-nach vorne gezogen und die Knie leicht gebeugt. Ein bisschen sieht sie aus, als schämte sie sich, die Venus, als wollte sie sich vielleicht verstecken. Aber mit all dem Zuspruch, mit der tiefen Liebe und Bestärkung, die sie von ihren Fans und Liebhaber:innen auf der ganzen Welt erfährt, da braucht sie sich nicht zu schämen. Auch wenn sie wahrscheinlich weder eine Gottheit noch das Schönheitsideal ihrer Zeit darstellt: Könnte sie sprechen, so würde sie wahrscheinlich sagen, dass sie zufrieden ist mit sich, genauso wie sie ist. Und dieses Selbstbewusstsein würde sie an alle anderen Frauen und auch Männer weitergeben, die manchmal nicht ganz so glücklich mit dem Körper sind, der ihnen im Spiegel gegenübersteht.

Der vollständige Text findet sich im Ballmagazin 2023

Denise Meier ist Absolventin des Lehrgangs „Journalismus und Medienmanagement“ der FHWien der WKW und seit 2022 Social-Media-Redakteurin bei Puls4.