
Für mich ist Wissenschaft eine Methode, mit der man etwas Unbekanntes verständlich macht – sich selbst und der Gesellschaft, in der man lebt. Ich arbeite über philosophisches Denken im alten Indien und Tibet. Genauer gesagt: Im Kontext des Buddhismus.
Meine Faszination: Zu untersuchen, wie man sich dort vor so langer Zeit systematisch und methodisch mit Fragen beschäftigt hat, die uns auch heute noch umtreiben: Die Natur des Bewusstseins, die Grundlagen eines guten und sinnvollen Lebens. Die Verlässlichkeit von Wissen oder die Bewertung von Wahrheitsansprüchen in einer Umgebung, in der man mit Andersdenkenden diskutiert. Mit diesen Themen beschäftige ich mich.
Dazu kommt, dass viele Handschriften und alte Blockdrucke in den letzten Jahren neu zugänglich geworden sind. Vor allem solche aus ethnokulturell tibetischen Regionen auf dem Gebiet der Volksrepublik China. Sie ermöglichen uns heute erstmals Zugang zu grundlegenden Werken auf Sanskrit oder Tibetisch. Sie lassen uns neue Denker entdecken, was enorm spannend ist.
Doch die Aufgabe, Themen aus der Geschichte Asiens in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts mit ihren volatilen Machtkonstellationen zu untersuchen, stellt uns auch vor Schwierigkeiten. Dass es divergierende Perspektiven auf Geschichte gibt, zeigt das Beispiel Tibets besonders eindrücklich. Wir müssen die Ansichten keineswegs alle teilen, aber als Wissenschafter:innen sollten wir ihre Hintergründe erklären.
Wir müssen heute einen globalen Kontext mitdenken, zu neuen Formen von Zusammenarbeit finden und ein historisches Verständnis entwickeln, das über Europa hinausreicht. Deshalb engagiere ich mich auch für den FWF-Exzellenzcluster EurAsian Transformations engagiert. Hier kann ich meine Arbeit in einem interdisziplinären Netzwerk erweitern – und auch über die Scientific Community hinaus vermitteln.
Birgit Kellner ist Buddhismusforscherin und Direktorin des Instituts für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie gehört dem Leitungsgremium des FWF-Exzellenzclusters EurAsian Transformations an.