
In Zeiten multipler Krisen steht Wissenschaftskommunikation unter Druck: Sie soll Orientierung geben und wird zugleich selbst zum Gegenstand des Misstrauens. Genau hier setzt Astrid Séville an, Politikwissenschaftlerin und Vortragende der Vienna Lecture on Science Communication 2026.
Eine Vorstellung von Chiara Joos
Mehr als hundert Menschen sind gekommen, um Astrid Séville in Lüneburg zuzuhören, wie sie über das neue Heldentum spricht. Sie aber beginnt mit Heidschnucken. Die Schafe sind die Wahrzeichen der Gegend in Norddeutschland zwischen Hamburg und Hannover. „Studierende werden hier unter uns Professor:innen auch so genannt“, scherzt Séville und verweist stolz darauf, dass der Systemtheoretiker Niklas Luhmann in der forschungstarken Stadt geboren wurde.
Seit Oktober 2023 ist die 41-Jährige gebürtige Aachenerin Professorin für Politische Theorie an der Leuphana Universität und leitet das Zentrum für Demokratieforschung. Nach Studien in Paris und Freiburg und Stationen an der TU München und Wien beschäftigt sie sich mit einer Frage, die sich durch ihre Arbeit zieht: Was verrät die politische Sprache über das Selbstverständnis ihrer Akteure?
In Wien untersuchte sie als Sir Peter Ustinov Gastprofessorin 2022, wie Verschwörungsdenken, Fake News und Polarisierung demokratische Politik gefährden. Séville ist aber keine Jägerin von ‚Frames‘, sondern Ideenkundlerin. Sie analysiert den Diskurs, nicht wie Luhmann das System. Ihre mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnete Dissertation über „Alternativlosigkeit“ interpretierte politische Kommunikation als Schlüsselloch zur Ideengeschichte. Im Podcast „Listen to Wissen“ erklärt sie, warum sie Sätze nicht nur auf Stil untersucht, sondern auf die Weltbilder, die durch sie sprechen: „Hinter Floskeln verbirgt sich oft ein Politikverständnis.“
Damit rückt Séville eine deutsche Fixierung ins Licht: die Neigung, die Mitte zu idealisieren, ja zum Fetisch zu machen. Wenn alle zur Mitte zählen, „ist ja alles in Butter“ – soziale Gegensätze verschwinden dann im Selbstbild. Doch wer gehört zur Mitte, und nach welchem Ton sprechen ihre Akteur:innen? Séville greift die Diagnose des Strukturwandels der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas auf: In sozialen Medien verschiebt sich politische Kommunikation vom Zuhören zum Sprechen, im Wissen, dass Ansprache nicht Fürsprache ist.
Heldentum in der Demokratie
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine beobachtet Séville die Rückkehr soldatischer Vokabeln in eine postheroische Gesellschaftt. Sie liest das als re-heroisierende Versuchsanordnung – riskant, erklärungsbedürftig und nur demokratietauglich, wenn sie den Zweifel mitkommuniziert. Heldentum ist laut Séville die Inszenierung von Stärke und der Bereitschaft, Verantwortung und Widerspruch auszuhalten. Zugleich gilt ihre Aufmerksamkeit den demokratischen Gegenöffentlichkeiten. Den Orten, an denen der Ton hart wird, und der Frage, ob Dialog zur Bewährungsprobe liberaler Selbstbilder überhaupt möglich ist. In ihrem Buch “Der Sound der Macht” zeigte Séville im Jahr 2018, wie der Ruf „Wir sind das Volk“ die Spielregeln des Sprechens verschiebt, indem es das Sagbare ausweitet und den Kompromiss diskreditiert.
Zurück auf die Bühne nach Lüneburg: Séville spricht weiter, von Sänger Campino, der sich fragt, ob er heute Wehrdienst leisten würde, von Politiker:innen, die Irrtümer bekennen, von einem deutschen Verteidigungsminister, der „kriegstüchtig“ sagt und von der Mühe, solche Begriffe in bürgerliche Milieus zu übersetzen. Ihr Angebot an die Mitte überzeugt nur, wenn sie deren eigenen Ränder mitdenkt: soziale Gegensätze, digitale Dynamiken und neue Kommunikationsräume. Wer heute von Mitte spricht, muss auch die Grammatik der Plattformen verstehen. Séville betreibt, was Niklas Luhmann „abgeklärte Aufklärung“ nannte: Sie untersucht die Sprache der Demokratie und klärt auf mit dem Bewusstsein, dass auch Aufklärung Teil des Spiels von Macht und Misstrauen ist.
Am Ende bleibt das Bild einer Theoretikerin, die politische Sprache protokolliert und ihre Möglichkeitsbedingungen freilegt. Wer wissen will, wie demokratische Selbstbehauptung gelingt, sollte lernen, zu welcher Art von Lesen Astrid Séville anregt: aufmerksam für das Kleine, geduldig mit Zweifel, entschieden in der Unterscheidung. Dann ist zwar nicht „alles in Butter“, doch klarer, worüber wir eigentlich sprechen.